10 Thesen des Bildungsstandards

Im Zuge der Podiumdiskussion der GEW-Veranstaltung (wird in neuem Tab geöffnet) in Marburg über Pro und Kontra von Bildungsstandards und Kompetenzorientierung vom 25. August 2011, wurde Peter Euler gebeten 10 Thesen zu kompetenzorientierten Bildungsstandards zu formulieren.

Folgende 10 Thesen wurden im Dezember 2011 im Newsletter der Marburger GEW und im Februar 2012 in der „GEW aktiv“ veröffentlicht (Link) :

10 Thesen zur Debatte um kompetenzorientierte Bildungsstandards von Peter Euler

  1. Die neueste Bildungsreform mit kompetenzorientierten Bildungsstandards im Gefolge der Pisa-Ergebnisse ist keine, die die Schule mehr zu dem machen könnte, was sie pädagogisch sein sollte. Im Gegenteil entspringt sie dem massiven Interesse an der Unterwerfung aller Lebensbereiche unter ökonomische Verwertungsbedingungen, wodurch Bildungspolitik explizit zu einem Teil der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik verkommt. (Weißbuch der Europäischen Kommission 1995, GATS-Abkommen 1995). Die Kritiker dieser Reform ergreifen demgegenüber Partei für das Pädagogische in der Schule, für Bildung und Mündigkeit. Die vom Diktat der Ökonomie bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse sind von heftigen Krisen erschüttert und verlangen gerade jetzt gebildete, mündige Individuen die der „allgemeinen Beratung zur Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten“ (Comenius) fähig sind.
  2. Die Rhetorik der Reform entstammt unverhohlen dem Business, die Instrumente aus der Betriebswirtschaftslehre und der pädagogischen Psychologie. Sie verdrängt dadurch die Eigengesetzlichkeit von Bildung und Pädagogik, Begriffe, die im „Unternehmen Bildung“, das der Sicherung und Steigerung der Lerneffizienz verpflichtet ist, veraltete und unbrauchbare Reformkategorien geworden sind.
  3. „Kompetenzorientierung“ heißt das Zauberwort! Von der bestehenden Unterrichtspraxis zeichnet die Reformpropaganda ein Zerrbild der Inputorientierung und Stofffixiertheit im lehrerzentrierten Unterricht, um von dieser Folie aus die neu ausgerufene „Schülerorientierung“ in hellstem Licht als Lösung alter und neuer pädagogischer Probleme erstrahlen zu lassen. Doch die Kompetenzorientierung ist weder – wie suggeriert wird – wissenschaftlich gesichert, noch politisch neutral. Ihre Plausibilisierung als Schülerorientierung lebt von einer relativ simplen Psychologisierung sachlich viel schwierigerer Bildungs- und Vermittlungsprobleme.
  4. Entgegen dem beanspruchten Habitus ist die Kompetenzorientierung auch alles andere als wissenschaftlich empirisch gesichert, geschweige denn in der Wissenschaft Konsens. Das Gegenteil ist der Fall! Schon Weinert, dessen Kompetenzdefinition gebetsmühlenartig beansprucht wird, kritisierte vehement das falsch eingeschätzte pädagogisch-unterrichtliche Potential psychologischer Erkenntnisse. Die Reformer geben sogar zu, dass sie bislang keine Theorie der Kompetenzentwicklung haben, was die Bedingung z.B. für die Graduierung von Kompetenzen ist, was aber die politische Inkraftsetzung seit 2003 nicht verhindert hat.
  5. Die Pisa-Studien erheben lediglich Lernergebnisse, keine unterrichtlich rekonstruierten Lernverläufe und Bildungsprozesse. Aber trotzdem wird aus diesen Lernergebnissen die Kompetenzorientierung als zwingend für die Neuorientierung des Unterrichtens gefolgert, das ist schlicht ein ungedeckter Scheck! Unter der Hand geraten nun aber die Basiskompetenzen zum neuen, soll man sagen heimlichen Curriculum.
  6. Zweifellos gehörten und gehören Kompetenzen zur Bildung, dies ist auch nicht der Gegenstand der Auseinandersetzung, allerdings geht Bildung nicht in der Summe von Kompetenzen auf. Gerade aber die Mixtur aus diffuser Praxiskritik und dogmatischen Wissenschaftsansprüchen öffnet die Rede von der Kompetenzorientierung gänzlich der Beliebigkeit, was auch die katechetischen Versprechungen in vielen Broschüren der Befürworter nachdrücklich belegen (vgl. Geißler /Orthey: „Kompetenz: Ein Begriff für das verwertbare Ungefähre“). Daher muss die pädagogische Kritik einen anspruchsvollen und bildungsrelevanten Begriff der Kompetenz (Piaget, Chomsky) vor der Beliebigkeit bewahren, denn ein solcher beschreibt das Verstehen der Sachen als Kern unterrichtlicher Bildungsarbeit. Sachverstehen und Mündigkeit, sind zwei Seiten derselben Medaille!
  7. Soll das seit vielen Jahrzehnten – weit vor Pisa – schon kritisierte geringe Verstehen vieler Schüler/innen pädagogisch angegangen werden, steht die Differenz von Wissen und Verstehen im Zentrum. Verstehen besteht in der subjektiven Erschließung, Zueignung der Sachen. Genesis und Geltung, also Herkunft und Begründung, aber auch die Verwendungszusammenhänge machen systematisch das Verstehen aus.
  8. Das Plädoyer für das „neue Unterrichtsskript“ wirft dem alten vor, „an der Vermittlung von Inhalten ausgerichtet“ gewesen zu sein (Lersch 2010). Da lauert die falsche Alternative, ob der Unterricht an der Sache oder am Schüler orientiert sein soll? Die Rede von Selbstbestimmung und Schüler-Orientierung verfängt gerne bei Pädagogen, aber entscheidend für ein pädagogisches Verhältnis ist, ob der Unterricht als Veranstaltung begriffen wird, dem Schüler die Sacherschließung zu ermöglichen. Erfolgt dies nicht, ist die Kompetenzorientierung eine leere Formel und in gänzlicher Übereinstimmung mit der neuen Rhetorik vom Input zum Output, vom Lehrer zum Berater/Coach, vom Lehren zum Lernen, und dann ganz steil: vom Lernen des Lernens, also von einem Lernen, bei dem das Lernen Inhalt ist, also keinen Inhalt mehr hat.
  9. Fallen Kompetenzbehauptung und Sachbezug auseinander, setzt die allerorten beobachtbare Beliebigkeit in der Begriffsverwendung ein und damit wird keine pädagogische Praxis besser. Dazu passt allerdings der allerorten feststellbare Qualitätsverlust durch die sog. Qualitätssicherung.
  10. Das Ende einer unpädagogischen Reform ist überfällig. Kaum ist irgendwo festzustellen, dass etwas besser geworden ist, aber Verschleiß, Frustration und Resignation sind allenthalben unter den Reformwilligen auszumachen. Notwendig ist eine die Bedingungen des Gelingens von Bildung und Pädagogik ernst nehmende Politik. Das verlangt eine beharrliche, politisch langfristig unterstützte und substanzielle, eben auch fachpädagogische Lehrer/innenbildung und Schulentwicklung, die nur durch solide Zusammenarbeit engagierter Lehrer/innen und Forscher/innen vorstellbar ist, nicht als top down Prozess eines Konsortiums.

Wichtige Hinweise und Anregungen verdanke ich folgender Literatur:

  • FROST, Ursula (Hg.)(2006): Unternehmen Bildung. Die Frankfurter Einsprüche und kontroverse Positionen zur aktuellen Bildungsreform. Sonderheft der Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik. Paderborn
  • GRUSCHKA, Andreas (2006): Bildungsstandards oder das Versprechen, Bildungstheorie in empirischer Bildungsforschung aufzuheben. In: Pädagogische Korrespondenz, Heft 35 Herbst 2006, S. 5-22
  • GRUSCHKA, Andreas (2011): Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht. Stuttgart
  • KRAUTZ, Jochen (2007): Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie. Keuzlingen/München
  • LOHMANN, Ingrid/RILLING, Rainer (Hg.)(2002): Die verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule.
  • PONGRATZ, Ludwig A. (2009): Bildung im Bermuda-Dreieck: Bologna – Lissabon – Berlin, Paderborn: Schöningh, 220 S.
  • RUHLOFF, Jörg: Lernfabrik oder Bildungsschule?. In: Martin HEITGER: Wozu Schule?. Innsbruck – Wien: Tyrola-Verlag 2002, S. 44-58
  • STEFFENS, Gerd (2006): Unter dem neoliberalen Wahrheitsregime. Durchsetzungsformen neoliberaler Bildungspolitik- ein Fallbeispiel. In: Jahrbuch für Pädagogik 2006, S. 292 ff